Wie du erkennen kannst, ob du ein Supplement wirklich brauchst
Die Welt der Nahrungsergänzungsmittel (NEM) bietet dem Konsumenten heutzutage für jedes Wehwehchen das richtige Mittel. Spröde Haare? Dann am besten täglich einen Gerstengrassaft trinken und ein überdosiertes Haar-Gummibärchen kauen. Hormonchaos? Einfach einen Löffel FemiBalance+ täglich in Wasser anrühren. Kostet nur 90 EUR für eine Monatsdosis. Gemüse schmeckt nicht? Mit dem Super Greens Pulver können alle Vitamine und Mineralstoffe abgedeckt werden. *Ironie aus.
Mit einer Googlesuche findet jeder Konsument bestimmt das passende NEM gegen seine Beschwerden.
Während NEM früher dazu genutzt wurden nachgewiesene Nährstoffmängel zu behandeln (bis heute der einzige valide Grund, ein NEM zu nehmen), werden sie heute hauptsächlich präventiv oder einfach ins Blaue hinein genommen. Dass die meisten Produkte auf dem Markt komplett nutzlos sind, und dass deren Sicherheit nicht geprüft wird, ist den wenigsten Käufern bewusst.
Sämtliche Nahrungsergänzungsmittel gelten so lange als sicher, bis das Gegenteil bewiesen ist.
Kein großer Anreiz für den Hersteller, das eigene Produkt mal mithilfe von guten Studien prüfen zu lassen.
Mittlerweile müsste bekannt sein, dass die Gesetzgebung für NEM nicht existent ist. Trotzdem lassen sich viele Konsumenten weiterhin von (Influencer-)Marketing in den Strudel der NEM ziehen und sich von falschen Versprechungen einlullen.
Ich bekomme deswegen täglich die Frage, ob das viel beworbene Supplement xyz sinnvoll sei.
Meine Antwort lautet eigentlich fast immer: “Nein, dafür gibt’s keine belastbare Evidenz.”
Auch wenn meine Antwort kurzzeitig hilfreich ist, bringt das die Wenigsten wirklich weiter. Wie soll ein Laie das denn zukünftig kritisch einschätzen können, ohne sämtliche Studien gewälzt zu haben?
Deswegen gibt es heute einen kleinen Leitfaden, damit du spätestens jetzt einschätzen kannst, ob du ein Nahrungsergänzungsmittel kaufen solltest oder nicht:
1. Hat dein Hausarzt dir das Nahrungsergänzungsmittel empfohlen?
Wenn du unter einem nachgewiesenen Nährstoffmangel leidest wird dein Arzt dir ein passendes Präparat empfehlen. Wenn du keinen Mangel hast und trotzdem ein NEM einnehmen willst, dann frag deinen Arzt, ob und in welcher Dosierung du das Präparat nehmen sollst.
Statt dir selbst anhand deiner Symptome eine Diagnose zu stellen und im Internet nach passenden Nahrungsergänzungsmitteln zu suchen, solltest du mit deinen Beschwerden zum Arzt gehen. Und wenn er dich nicht ernst nimmt, dann geh zum nächsten Arzt.
2. Hat dir deine Ernährungsfachkraft das Nahrungsergänzungsmittel empfohlen?
Wenn deine Symptome höchstwahrscheinlich auf deine Ernährung zurückzuführen sind, dann buche dir eine Ernährungsberatung deines Vertrauens. (Bei einer Ernährungsfachkraft! Klicke hier, um mehr zu lesen.)
In der Beratung kann festgestellt werden, ob du, bedingt durch deine Ernährungsweise, ein NEM benötigst oder ob du die Nährstoffe auch einfach über eine angepasste Ernährungsweise aufnehmen kannst.
Meistens kann auch in Absprache mit dem Hausarzt festgestellt werden, ob das NEM für dich sinnvoll ist.
3. Hat der Hersteller Beweise für die Wirksamkeit des Nahrungsergänzungsmittels?
Achtung vor anekdotischer Evidenz:
Diese Art der Vermarktung und Beweisführung findet sich meist im Influencermarketing wieder. Wenn ein Hersteller nur mit Erfahrungsberichten anderer Kunden glänzen und keine Studien vorweisen kann, dann nimm Abstand von dem Produkt. Nur weil es – anscheinend – bei anderen Menschen funktioniert hat, muss es noch lange nicht dieselben Ergebnisse bei dir erzielen. Hier möchte ich auch noch die Gefahren des Placeboeffekts und der verzerrten Selbstwahrnehmung nennen. Manchmal hätten wir einfach gerne, dass eine Kapsel für uns funktioniert… Mehr dazu kannst du hier nachlesen.
Achtung bei Studien:
Ich weiß, du hast keine Lust und auch keine Zeit dir die Studien zu dem Nahrungsergänzungsmittel rauszusuchen. Und vielleicht weißt du nicht mal, wie du die Studien lesen sollst. Das ist auch nicht deine Aufgabe. Halte aber Ausschau nach Beweisen in Form von Studien auf der Website des Herstellers. Hat er welche verlinkt? Oder schreibt er nur: “Viele Studien zeigten, …” Das ist die Warnung für dich, lieber Abstand zu nehmen. Denn hinter dieser Behauptung steckt in den wenigsten Fällen gute Evidenz.
Achtung vor rein mechanistischen Beweisen:
Ein gutes Beispiel ist hier L-Carnitin, eine Aminosäuren-Verbindung, die in unseren Körperzellen selbst gebildet wird. L-Carnitin wird gerne in Tabletten als “Fatburner” verkauft. Die Behauptung der Hersteller ist, dass der Körper nur mithilfe von L-Carnitin Körperfett effizient verbrennen kann. Und es gibt sogar einen mechanistischen Beweis: Betrachtet man die Biochemie des Fettstoffwechsels, wird ersichtlich, dass L-Carnitin tatsächlich an der Energiegewinnung in der Zelle beteiligt ist. Wenn der Mechanismus in den Fachbüchern doch genau beschrieben wird, dann muss ja klar auf der Hand liegen, dass L-Carnitin als Supplement der perfekte Fatburner ist? Oder?
Und da haben wir auch schon die Grenzen der mechanistischen Beweise. Denn in Studien wird klar gezeigt, dass die zusätzliche Zufuhr von L-Carnitin die Fettverbrennung nicht beschleunigen oder steigern kann. Ein Überschuss an L-Carnitin wird einfach mit dem Urin ausgeschieden. Das Geld für das NEM war dann also für die Toilette.
Die meisten Hersteller benutzen diese mechanistischen Beweise. Achte mal darauf, du wirst sie überall wiederfinden.
Mit diesem kurzen Leitfaden müsstest du gut ausgestattet sein, wenn du das nächste Mal vor der Frage stehst, ob du ein Nahrungsergänzungsmittel kaufen solltest oder besser nicht. Und wenn du immer noch unsicher bist, dann helfe ich dir mit meiner Nährstoffberatung gerne kompetent weiter.
Nina Schneider
Ernährungswissenschaftlerin (B.Sc.), Scienefluencerin, freie Wissenschaftsjournalistin und Gründerin von Pflanzlich Gesund - Evidenzbasiertes Ernährungswissen.