Bei meinem letzten Frisörbesuch musste ich mir entgeistert mit anhören, wie der Kundin vor mir beim Abschied empfohlen wurde, sich doch Gerstengrassaft zu kaufen. Solle die Haare beim Wachstum unterstützen. Als nährstoffreiches Wundermittel wird der grüne Saft auch in den Sozialen Medien hochgelobt. Influencer:innen schwören auf das Produkt und haben teilweise sogar ihre Karriere darauf aufgebaut. Ist da was dran, am vermeintlichen Wundermittel Gerstengrassaft? Und macht es wirklich die Haare schön?
Was ist eigentlich Gerstengras?
Gersten- und Weizengras gehören zu den bekanntesten Getreidegräsern. Es handelt sich um die grünen Jungpflanzen des jeweiligen Getreides, die aus einem Keimling heranwachsen. Die Unterschiede in den verschiedenen Getreidegräsern liegen in ihrem Nährstoffgehalt. Gerstengras reichert minimal andere Gehalte an Nährstoffen an, als Weizengras.
Der Hauptnutzen von Gerstengras liegt übrigens in der Tiermast. Kein Wunder, denn das Gras besitzt in etwa 45 g Kohlenhydrate auf 100 g. Gerstengras befindet sich übrigens auch in einigen Katzenhaushalten – als Katzengras.
Um Grassaft zu erhalten, werden die Getreidegräser nach der Ernte entsaftet. Für Grasssaftpulver wird der Saft getrocknet und fein vermahlen. Einige Hersteller pressen das Saftpulver in Tablettenform.
Das getrocknete Grassaftpulver soll nun jede Menge Vitamine und Mineralstoffe liefern. Unter anderem viele B-Vitamine, sowie Calcium, Eisen und Magnesium. Für ein Produkt aus gekeimten Samen ist das nicht ungewöhnlich.
Doch mit der empfohlenen Tagesdosis von meist ca. 1 TL sind diese Mengen wieder vernachlässigbar.
Mit einer ausgewogenen Ernährung, reich an Gemüse und Obst, kann man problemlos die Zufuhrempfehlungen für sämtliche Nährstoffe decken. Hingegen müssten man Gerstengrassaft tatsächlich gläserweise trinken, um zumindest den Bedarf an ein paar Nährstoffen zu decken.
Außerdem: Ein nährstoffreiches Lebensmittel macht noch kein Wundermittel.
Die Nährstoffgehalte erklären also noch nicht, warum Gerstengrassaft als Wundermittel gilt. Dabei behaupten manche Websites sogar, mit Gerstengras könne man auch Schwermetalle ausleiten, Diabetes heilen, das Immunsystem stärken, Entzündungen verhindern, Hautkrankheiten heilen, den Cholesterinspiegel senken, sowie das Wachstum von Haaren und Nägeln beschleunigen. Und mehr Glänzen soll das Haar natürlich auch noch.
Ist Gerstengrassaft tatsächlich ein Wundermittel und macht es unsere Haare schöner?
Viele Studien zu Gerstengrassaft gibt es bisher nicht. Unter dieser mickrigen Auswahl gibt es auch keine einzige aussagekräftige Studie. Es existieren ein paar sehr kleine Studien mit nur wenigen Probanden, deren Blutwerte nach der Einnahme von Gerstengraskapseln untersucht wurden. Ein aussagekräftiges Ergebnis kam dabei nicht heraus. In Zellkulturstudien zeigte sich eine krebshemmende Wirkung. Diese Ergebnisse kennen wir von vielen Substanzen und sind leider genau so wenig aussagekräftig und nicht auf den Menschen übertragbar. Ähnliche Ergebnisse gab es auch für Weizengras.
Zudem gibt es keine einzige Studie, die untersucht, ob Gerstengrassaft das Haarwachstum beschleunigen kann.
Diese Behauptung fußt also nur auf anekdotischer Evidenz. Hersteller und Influencer:innen erzählen im Internet, wie sich ihr Haarwachstum und ihre Haarstruktur ins Positive verändert hat, seitdem sie Gerstengrassaft trinken. Einen handfesten Beweis gibt es nicht. Dabei muss man beachten, dass Haare sowieso etwa 2,5 mm pro Woche wachsen und dass das Glänzen der Haare mehr mit deren Pflege, als mit einem minimal veränderten Ernährungszustand zu tun hat.
Erfahrungsberichte, egal wie viele sich in den Sozialen Medien tummeln, sind kein Beweis für die Wirksamkeit eines Produkts.
Denn wir Menschen belügen uns zu gern selbst, wir haben bestimmte Erwartungen und sind manipulierbar.
Mehr Gesundheitsgefahr statt Wundermittel?
Wie alle anderen Keimlinge, so bergen auch Getreidegräser eine mögliche Krankheitsgefahr. Da sie als Rohwaren verzehrt und nicht zusätzlich erhitzt werden, besteht die Gefahr der Aufnahme von potenziell krankmachenden Bakterien, v. a. E-Coli Bakterien, Bacillus cereus oder Clostridium perfringens. Wie hoch das Risiko ist, kann derzeit nicht festgestellt werden. Denn leider fehlen für Nahrungsergänzungsmittel wichtige Verzehrdaten. Nicht zu vergessen: Nahrungsergänzungsmittel müssen keine amtlich geprüfte Sicherheit vorweisen.
Vor allem immungeschwächte, ältere und schwangere Personen haben ein erhöhtes Erkrankungsrisiko und sollten auf Grassaftprodukte verzichten, bzw. die Einnahme vorher mit ihrem Arzt abklären.
Fazit: Die Gründe für den Status als Wundermittel sucht man bei Gerstengrassaft und Co. leider vergeblich. Einen handfesten Beweis für sämtliche der beschriebenen gesundheitlichen Vorteile gibt es nicht. Die zahlreichen positiven Berichte über gesünderes Haar durch Gerstengrassaft können durch Studien nicht bestätigt werden. Es gibt schlichtweg keine. Für gesundes Haar lohnt es sich mehr, die richtige Haarpflege anzuwenden und einfach geduldig abzuwarten.
Quellen:
medizin-transparent.at/gerstengras-mastfutter-als-nahrungsergaenzung/
bzfe.de/service/news/aktuelle-meldungen/news-archiv/meldungen-2020/januar/gerstengras-und-weizengras/
aspermuehle.de/Graeser/Gerstengras-Bio/Bio-Gerstengrassaft-Pulver/
myra-snoflinga.com/lipoedem/endlich-lange-haare-mit-gerstengras-mein-experiment-und-meine-erfahrung/
de.statista.com/statistik/daten/studie/1756/umfrage/wachstum-der-haare-an-verschiedenen-koerperstellen/
bfr.bund.de/cm/343/gras-und-blattprodukte-zum-verzehr-koennen-mit-krankmachenden-bakterien-verunreinigt-sein.pdf
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Nina Schneider
Ernährungswissenschaftlerin (B.Sc.), Scienefluencerin, freie Wissenschaftsjournalistin und Gründerin von Pflanzlich Gesund - Evidenzbasiertes Ernährungswissen.