Erfahrungsberichte spielen eine riesige Rolle in der Gesundheitsszene auf Social Media.
Influencer verkaufen mithilfe von Anekdoten ihre Supplements („seit ich Gerstengrassaftpulver nutze wachsen meine Haare besser“).
Unternehmen bauen ihr Marketing darauf auf („seht euch an, was hunderte von Nutzern zu unserem tollen Produkt sagen“).
Wo der wissenschaftliche Backup fehlt, werden einfach Erfahrungsberichte eingesetzt.
Es kommt zum anekdotischen Fehlschluss: Einzelne oder viele Anekdoten werden höher gewichtet als Studien.
Was ist das Problem an Anekdoten?
1: Anekdoten haben einen geringen Evidenzgrad: Sie sind also wissenschaftlich nicht wirklich stichhaltig. Anekdoten wurden nicht systematisch gesammelt und analysiert. Ihnen fehlen die Kontrollgruppen. Ihnen fehlt das Hintergrundwissen, das große gesamte Bild. Sie lassen keine allgemeingültige Schlussfolgerung zu.
Ein Beispiel: Ein Influencer teilt viele Anekdoten seiner Ex-Veganen-Follower, die nach Jahren veganer Ernährung diffuse Symptome entwickelt haben. Seine Schlussfolgerung: Vegane Ernährung kann nicht gesund sein, wenn so viele Menschen darüber
klagen. Er kennt jedoch keinen seiner Follower persönlich, kennt nicht deren gesamten Ernährung, Lebensumstände, Gesundheitsprobleme und genetisches Profil und kann letztendlich auch nicht sagen, ob es sich um eine reale Person handelt.
2: Es kommt zum Confirmation Bias (Bestätigungsfehler): Wir tendieren unbewusst dazu, nur auf Informationen zu gucken, die mit unserer eigenen Sichtweise übereinstimmen.
Um beim Beispiel von gerade zu bleiben: Der Influencer ist selbst Ex-Veganer und fühlt sich durch all die Zuschriften seiner Follower bestätigt, dass vegane Ernährung nicht gesund sein kann. Er sucht weiter nach Meinungen, die ihn bestätigen.
3: Aus Anekdoten lässt sich kein Kausalzusammenhang herstellen. Nehmen wir Susi als Beispiel. Sie ist seit Jahren Veganerin und leidet unter starker Müdigkeit. In dem Zuge probiert sie viel aus. Unter anderem baut sie täglich ein Ei in ihre Ernährung ein und plötzlich geht es ihr besser. „Diese verdammte vegane Ernährung“, denkt sie! „Das Ei hat mich geheilt.“ Was sie vergisst: Gleichzeitig nimmt sie ein ärztlich verschriebenes Eisenpräparat gegen Eisenmangel ein, sie meldet sich im Fitnessstudio an und sie macht längere Spaziergänge an der frischen Luft. Welche dieser Lebensstiländerungen hat sie nun wirklich „geheilt“? Und ist sie überhaupt geheilt, oder kommt die Müdigkeit vielleicht bald schon wieder?
4: Anekdoten können nicht übertragen werden. Was für den einen funktioniert, muss nicht zwangsläufig für den anderen funktionieren und schon gar nicht für eine größere Gruppe. Um beim Beispiel zu bleiben: Susi empfiehlt ihrer immer müden Arbeitskollegin, mehr Eier zu essen. Eierkonsum hätte Susi schließlich gegen ihre Müdigkeit geholfen. Die Arbeitskollegin isst nun täglich drei Eier, müde bleibt sie trotzdem. Später stellt sich heraus, dass die Arbeitskollegin ein beginnendes Burnout hatte.
Warum kann es gefährlich sein sich rein auf Anekdoten zu verlassen?
1: Anekdoten können zu falscher Sicherheit führen. Menschen verlassen sich auf Einzelfälle, anstatt auf wissenschaftliche Beweise.
2: Es kommt zu Fehlbehandlungen. Patienten erhalten möglicherweise unwirksame oder sogar schädliche Behandlungen.
Ein Beispiel: Eine Influencerin berichtet von einer Wunderheilung ihrer Krebserkrankung durch eine spezielle Diät. Dies führt dazu, dass andere Betroffene die gleiche Diät versuchen, obwohl keine wissenschaftlichen Beweise deren Wirksamkeit unterstützen.
3: Verbreitung von Fehlinformationen. Unbewiesene oder falsche Informationen verbreiten sich schnell und werden unreflektiert geteilt.
4: Anekdoten können gesundheitsgefährdend sein. Ein Beispiel: Eltern entscheiden sich gegen Impfungen für ihre Kinder, weil sie von einem Einzelfall gehört haben, in dem ein Kind angeblich nach einer Impfung Autismus entwickelt hat. Diese Behauptung basiert auf anekdotischer Evidenz und widerspricht der umfangreichen Evidenz, die keine Verbindung zwischen Impfungen und Autismus gefunden hat.
Als Menschen sind wir von Natur aus fehlbar und anfällig für kognitive Verzerrungen (Biases), die unser Denken und unsere Entscheidungsfindung beeinflussen. Das ist eine Tatsache, die wir akzeptieren müssen. Unsere Umwelt und unsere Erfahrungen beeinflussen uns täglich und unsere Emotionen leiten uns dabei.
Kognitive Verzerrungen können dazu führen, dass wir uns systematisch selber täuschen. Wir verarbeiten Informationen und Kommunikation nicht alle gleich, sondern ganz individuell. Wir belügen uns selbst, übertreiben maßlos, stellen Kausalzusammenhänge her, wo es eigentlich nur Korrelationen zu sehen gibt. Wir neigen dazu, aus unseren eigenen Erlebnissen allgemeingültige Aussagen abzuleiten. Oder sogar aus Anekdoten anderer, bei denen wir selbst nicht dabei waren. Wir kennen außerdem nur unsere eigene Lebensrealität und können weder in die Köpfe noch in die Leben anderer Menschen hineinsehen.
Ich habe auf Social Media schon oft beobachtet, wie Influencer Produkte vermarkten und im Zuge dessen massenhaft Erfahrungsberichte ihrer Follower teilen. Das nennt sich Empfehlungsmarketing/Testimonial-Marketing.
Warum funktioniert das so gut?
- Soziale Bewährtheit: Menschen tendieren dazu, das Verhalten anderer nachzuahmen. Wenn sie sehen, dass andere ein Produkt positiv bewerten, sind sie eher geneigt, es selbst auszuprobieren.
- Glaubwürdigkeit & Vertrauensaufbau: Echte Erfahrungsberichte wirken authentisch und glaubwürdig. Sie können Zweifel und Unsicherheiten abbauen.
- Emotionaler Einfluss: Gerade bei der Vermarktung von Gesundheitsprodukten können positive Erfahrungen anderer die Aussicht auf Heilung einer Erkrankung schaffen und damit zum Kauf anregen.
Ich habe in den letzten Monaten beobachtet, dass auch Wissenschaftler und Ärzte auf Social Media eine solche Strategie nutzen. Erfahrungsberichte werden geteilt, um dem eigenen Forschungsthema oder der eigenen Arbeit mehr Bedeutung zu verleihen, als sie eigentlich haben. Also, um zu verschleiern, dass sich die Forschung zu dem Thema noch sehr am Anfang befindet und eigentlich nicht viel wissenschaftliche Evidenz dahintersteckt. Das ist besonders fatal, denn der Großteil der Follower sind keine Wissenschaftler. Sie haben gar nicht die Werkzeuge, um wissenschaftliche Inhalte zu hinterfragen. Also bleibt ihnen nur diese Vielzahl an Erfahrungsberichten, mit denen sie sich vielleicht sogar identifizieren können.
Ein Beispiel: Ein Instagram-Arzt verkauft seine individuelle Gesundheitsleistung (Selbstzahlerleistung) an seine Follower, indem er die Erfahrungsberichte seiner Patienten teilt. Die Follower wissen nicht, dass diese spezielle IGeL unter seriösen Medizinern eigentlich verpönt ist. Für sie zählt nur, dass andere Patienten damit Erfolg haben.
Schlussendlich denkt bitte dran: Wenn ihr Social Media nutzt, solltet ihr die Probleme anekdotischer Evidenz im Hinterkopf behalten. Erfahrungsberichte haben irgendwo ihre Daseinsberechtigung und können im Einzelfall hilfreich sein. Sie ersetzen aber niemals wissenschaftliche Erkenntnisse.
Quellen:
Glaser, C. (2019). Anekdotischer Fehlschluss. In: Risiko im Management. Springer Gabler, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-25835-1_40
Dieter Rossboth, John Gay, Vivian Lin: Einführung in die Evidence Based Medicine. Wissenschaftstheorie, Evidence Based Medicine und Public Health. 1. Auflage. WUV Univ.-Verlag, Wien 2007, S. 16 f.
Wie unzuverlässig wir denken: Kognitive Verzerrungen
Nina Schneider
Ernährungswissenschaftlerin (B.Sc.), Scienefluencerin, freie Wissenschaftsjournalistin und Gründerin von Pflanzlich Gesund - Evidenzbasiertes Ernährungswissen.